Literaturkreis Berichte 2024

 

Treffen Titel Autor
24.01.2024 Das Leben ist ein vorübergehender Zustand Gabriele von Arnim
13.03.2024 Während die Welt schlief Susan Abulhawa
17.04.2024 Frei – Erwachsenwerden am Ende der Geschichte Lea Ypi
05.06.2024 Offene See Benjamin Myers
17.07.2024 8 Werke:

  • „New-York-Trilogie“ von 1989 (3 Bücher)
  • Mond über Manhattan, 1990
  • Leviathan, 1992
  • Mr. Vertigo, 1996
  • Unsichtbar, 2010
  • Baumgartner, 2023
Paul Auster
18.09.2024 Der Gesang der Berge Nguyen Phan Que Mai
06.11.2024 Dschinns Fatma Aydemir
11.12.2024 Stuttgart zur Stunde null Kai Bliesener



Das Leben ist ein vorübergehender Zustand

Autorin: Gabriele von Arnim

Die Autorin beschreibt darin die 10-jährige Pflege ihres Ehemannes nach zwei Schlaganfällen. Der sportliche und eloquente sehr bekannte Journalist, Reporter und Redakteur bleibt gelähmt und mit eingeschränkter Sprachfähigkeit zurück. Obwohl von Arnim ihm am Tag des ersten Schlaganfalls morgens mitgeteilt hatte, dass sie ihn verlassen wolle, entscheidet sie sich, bei ihm zu bleiben. Dass es ein 10-jähriger Leidensweg mit vielen Tiefpunkten werden würde, konnte sie nicht ahnen. Während der intensiven Betreuung ihres Ehemanns schreibt sie Tagebuch, auch um die hoffnungslosen Tage zu überstehen. Erst einige Jahre nach dem Tod ihres Mannes entscheidet sie das Buch zu schreiben.

Gabriele von Arnim schreibt autobiographisch über Fürsorge bis zur Übergriffigkeit, über Zuwendung bis zur Herrschsucht, über Hoffnung in der wissentlichen Hoffnungslosigkeit, über eine die Kraft übersteigende Pflege. Sie schildert gute und schlechte Situationen ohne Scheu. Freunde wenden sich ab, die mit der Situation nicht umgehen können, aber Fremde engagieren sich, um für sie das Leben etwas leichter zu machen.

Literaturkreis Holzgerlingen 24. Januar 2024 (Stadtbücherei)

Der Literaturkreis tauschte sich ausführlich über eigene Erfahrungen aus und zeigte großen Respekt vor der Leistung der Autorin. Es ist ein sehr lesenswertes Buch, denn niemand weiß, was morgen wird.

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Während die Welt schlief

Autorin: Susan Abulhawa

432 Seiten, TB Heyne 2023

Die Autorin, 1970 geboren als Kind palästinensischer Flüchtlinge, wuchs in Kuwait, Jordanien und Jerusalem auf und wurde – ihre Eltern hatten sich getrennt – mit 13 Jahren als Pflegekind nach Charlotteville (North Carolina) vermittelt. Sie studierte nach dem Schulabschluss Biomedizin in den USA und lebt heute in Pennsylvania. „Während die Welt schlief“ ist ihr erster Roman, zu dem sie nach einer Palästina-Reise im Jahre 2000 angeregt wurde.

Das Buch beschreibt anhand des – fiktiven – Schicksals einer palästinensischen Familie über vier Generationen hinweg die Geschichte Palästinas ab 1941 und die Konflikte und kriegerischen Auseinandersetzungen mit Israel nach dessen Gründung 1948 und der Teilung Palästinas durch die Vereinten Nationen. Das Leben zwischen immer wieder erneuter Vertreibung, Kriegen, aber auch Hoffnungen und Versöhnungsansätzen wird ergreifend, berührend und tief mitfühlend geschildert. Die Versäumnisse, sich historisch rechtzeitig für eine Zwei-Staaten-Lösung zu entscheiden, werden klar herausgearbeitet. Das Lagerleben palästinensischer Flüchtlinge ist von Hass und Verzweiflung geprägt. Das Buch ist eine zum Teil schwer erträgliche Lektüre, wiewohl es zwischendurch auch sehr versöhnliche Botschaften enthält.

Literaturkreis Holzgerlingen 13. März 2024 (Stadtbücherei)

Der Literaturkreis hatte sich für dieses Buch lange vor dem 7. Oktober 2023 entschieden, als noch keiner ahnen konnte, wie grausam und kontrovers die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der Hamas und Israel werden würden. Entsprechend schwierig wurde die ungewöhnlich lange Diskussion, die zum Teil von sehr persönlichen
Positionen geprägt war. Interessant waren dabei auch die Analysen zur Bedeutung der direkten und indirekten Einmischung anderer Länder bis hin zu den Großmächten USA, Russland, und China.

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Frei – Erwachsenwerden am Ende der Geschichte

Autorin: Lea Ypi

333 Seiten, TB Suhrkamp Verlag, 14 Euro

Lea Ypi, Jahrgang 1979, geboren in Albanien, stammt aus dem ehemaligen Großbürgertum. In der 1946 unter Enver Hoxha ausgerufenen „sozialistischen Volksrepublik“ galt die Familie als „Klassenfeind“, Lea Ypi wuchs in einer stalinistischen Diktatur auf, den Transformationsprozess ab 1992 und sein Scheitern erlebte sie in Tirana. Es gelang ihr dann, in Italien zu studieren und zu promovieren. Nach weiteren internationalen Stationen ist sie heute Professorin an der London School of Economics.

Ihr erstes – autobiographisches – Buch „Frei“ erschien 2021 auf Englisch, 2022 auf Deutsch. Sie beschreibt darin ihre Kindheit und Jugend in einer Diktatur, die aber ihr Zuhause ist: als Ort der Geborgenheit, des Lernens, der Hoffnung und der Freiheit. All das bricht mit dem Fall der Mauer in Berlin und dem Ende der Enver-Hoxha-Herrschaft zusammen. Alle ihre „Wahrheiten“ gehen plötzlich verloren. Sie erfährt, dass ihre oppositionellen Eltern – um sie zu schützen – sie jahrelang belogen und getäuscht hatten, dass Verwandte politisch verfolgt worden waren, enteignet, zum Teil in Arbeitslagern und Gefängnissen gesessen hatten. Dann aber erlebt sie die „Übernahme“ von Albanien durch gewissenlose Geschäftemacher, Betrüger, Drogendealer und Zuhälter. Die junge Privatwirtschaft erwirtschaftete zusammen mit den Überweisungen von 400.000 ausgewanderten Albanern ein großes privates Vermögen, das 1997 durch skrupellose „Sanierer“ verloren ging.

Literaturkreis Holzgerlingen 17. April 2024 (Stadtbücherei)

Lea Ypi hat einen präzisen und eindringlichen Stil, schildert die Erfahrungen mit der „neuen Freiheit“ warmherzig und humorvoll, trotz der damit auch für ihre Familie verbundenen Tragik. Dem Literaturkreis fielen bei seinem Treffen in der Stadtbibliothek viele lobende Adjektive für das Buch ein, das alle mit großem Lesevergnügen und nachdenklichen Erkenntnissen über die Auswirkungen der „Freiheit“ für Albanien verbanden. Die Vergleiche zur Entwicklung Deutschlands nach der Wiedervereinigung lagen natürlich nahe und wurden – zum Teil aus eigenen Erfahrungen – trefflich formuliert.

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Offene See

Autor: Benjamin Myers

268 Seiten, Verlag Dumont

Benjamin Myers (Jahrgang 1976) legt mit „Offene See“ sein zweites Buch in deutscher Sprache vor.
Es wurde 2020 zum Lieblingsbuch des Unabhängigen Buchhandels gewählt. Es ist eines von inzwischen 20 Büchern
des schreibfreudigen englischen Autors, der in Deutschland offensichtlich erst jetzt „entdeckt“ wird.

England 1946: das Land fast bankrott, durch Hitlers Luftkrieg gegen England sind viele Städte zerstört,
Hunger und Lebensmittelkarten bestimmen den Alltag. Der 16jährige Robert sieht sein Leben nach dem
Schulabschluss auf eine Tätigkeit im Bergwerk hinauslaufen, wie seine Vorfahren. Er entscheidet sich jedoch,
erst seiner Sehnsucht nach der Weite des Meeres nachzugehen, und macht sich auf Wanderschaft. Er lebt von
Tagelöhnerarbeiten und fühlt sich frei.

Fast am Meer angekommen, lernt er eine ältere Frau kennen, Dulcie, die ihn zu einem Tee in ihr Cottage einlädt.
Robert begegnet in ihr der ungewöhnlichsten Frau seines Lebens, hört zu, diskutiert, betritt eine ihm auch
intellektuell völlig unbekannte Welt. Dulcie ist offen, gastfreundlich, aber zugleich auch merkwürdig rätselhaft.
Sie trägt ein Trauma in sich, an das sich Robert sehr langsam und mit viel Mühe heranarbeitet. Die Lebensfreundin
Romy Landau, 1933 vor den Nazis aus Deutschland nach England geflüchtet, hat intensive Jahre mit Dulcie verbracht,
war jedoch depressiv und hat ihren Zustand mit unendlich vielen Gedichten zu erleichtern versucht, im Endeffekt
vergeblich: sie hat sich das Leben genommen. Robert findet den Abschiedsbrief, den Dulcie über viele Jahre so
vermisst hatte.

Dulcie veröffentlicht die Gedichte von Romy Landau als Buch mit Robert als Mitherausgeber. Es wird ein großer
finanzieller Erfolg. Dulcie stößt Robert damit die Tür zu einer ganz anderen Lebensentwicklung auf: er kann
studieren und wird Schriftsteller.

Literaturkreis Holzgerlingen 05. Juni 2024 (Stadtbücherei)

Der Literaturkreis hat „Offene See“ mit großem Vergnügen gelesen und lobte die flüssige, gut
lesbare Sprache, die bisweilen überraschenden Einfälle, die einfühlsame Erzählung über Selbstfindung, Freundschaft
und Lebensweisen.

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acht Werke

Autor: Paul Auster

Der Literaturkreis Holzgerlingen traf sich im Juli 2024 erneut in der Stadtbibliothek, diesmal mit einem ganz neuen Diskussionsansatz: ein Mitglied hatte vorgeschlagen, doch einen Abend lang über das Gesamtwerk des im April dieses Jahres an Lungenkrebs verstorbenen Autors Paul Auster zu sprechen. Mitglieder des Literaturkreises durften sich ein Buch aus der langen Liste dieses führenden zeitgenössischen amerikanischen Literaten aussuchen und es vorstellen.

Auf diese originelle Weise kam der Literaturkreis in den Genuss von acht Werken, die – das war bei der Vielfalt von Auster nicht anders zu erwarten – zum Teil äußerst unterschiedlich waren:

– „New-York-Trilogie“ von 1989 (3 Bücher)
– Mond über Manhattan, 1990
– Leviathan, 1992
– Mr. Vertigo, 1996
– Unsichtbar, 2010
– Baumgartner, 2023

Auster hat viele ungewöhnlich verwickelte und komplexe Erzählungsansätze, in denen es um Leben, Liebe, Heirat, Trennung, Unfälle, Tod und immer wieder überraschende zufällige Begegnungen geht, bisweilen nur durchschaubar, wenn man beim Lesen „ein Organigramm aufmalt“, wie eine Teilnehmerin humorvoll anmerkte. Manches muss man aus der neuidealistischen Bewegung des 19. Jahrhunderts zu verstehen versuchen, und wichtig ist für Auster immer wieder die Bedeutung der Sprache für die Wahrnehmung der Welt. Austers Figuren sind selbst oft Schriftsteller, die sich mit der Unordnung der Welt und dem Chaos der Ereignisse auseinandersetzen. Vieles ist biografisch und zeigt Auster ständig auf der Suche nach dem Sinn des Lebens: wer bin ich, woher komme ich, was mache ich im Jetzt?

Literaturkreis Holzgerlingen 17. Juli 2024 (Stadtbücherei)

Ausführlich wurde sein letztes Buch diskutiert, das 2023 auf Deutsch erschienen ist: „Baumgartner“, besonders biografisch, weil er sich hier mit Verlustängsten von geliebten Menschen auseinandersetzt und dem „Phantomschmerz“, der ihn quälte – möglicherweise auch schon (hier war der Kreis sich nicht einig) mit einem Blick auf seine nicht heilbare Krebserkrankung und den absehbaren Tod.

Überwiegend fanden die Literaturkreisleserinnen und –leser, dass Auster spannend, sehr flüssig und elegant schreibt, mit vielen Gedankensplittern und Zeitkapseln, Rückblicken auf seine frühen Jahre in New York, aber auch auf seine besondere Liebe zu Frankreich, wo er mehrere Jahre verbracht hatte.

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Der Gesang der Berge

Autorin: Nguyen Phan Que Mai

429 Seiten, Suhrkamp/Insel-Verlag

Die Autorin wählt in ihrem Buch die Form einer Familiengeschichte, die im alten Norden Vietnams in Frieden und Wohlstand ihren Anfang nimmt, aber im Zuge fremder Besatzung, Landreform und Krieg eine Geschichte von Vertreibung, Flucht und unsäglichem Leid
wurde. Doch die Frauen der Familie sind stark und entschlossen, dem Schicksal eine lebenswerte Zukunft abzuringen. Die Familie versucht, trotz des Verlustes des im Krieg gefallenen Vaters, Wege zu finden, die Kinder zu ernähren und in Schulen zu schicken. Wie in allen kommunistischen Systemen spielt auch hier bei der „Landreform“ die Vernichtung und Unterdrückung der besitzenden Familien und die gesellschaftliche Ausgrenzung von deren Kindern eine tragische Rolle. Politisches Chaos, Misswirtschaft, Unterdrückung, Denunziation, Gesinnungsbestrafung – all das ist aus anderen ähnlichen Systemen sattsam bekannt.

Literaturkreis Holzgerlingen 18. September 2024 (Stadtbücherei)

Beim jüngsten Treffen des Literaturkreises Holzgerlingen im September 2024 in der Stadtbibliothek ging es um das Buch „Der Gesang der Berge“ von der 1973 in Nordvietnam geborenen, heute in Indonesien lebenden Autorin Nguyen Phan Que Mai.

Der Hintergrund des Buches ist die lange Geschichte der Unterdrückung Vietnams durch ostasiatische Nachbarn (vor allem Japan und China), Frankreich und die USA. Für viele im Kreis waren dies Tatsachen, die in ihrem Leben über so lange Jahre die Schlagzeilen der Zeitungen und später die Fernseh-Medien beherrschten: die Fortsetzung der französischen Kolonialherrschaft in den fünfziger Jahren, die Teilung des Landes, die brutale Herrschaft der von Moskau und Peking unterstützen kommunistischen Vietminh im Norden und der von den USA nach der Niederlage Frankreichs geführte gnadenlose und opferreiche Vietnam-Krieg vom Süden aus. Wie kann man eine solche Geschichte literarisch verarbeiten?

Der Literaturkreis war einerseits erschüttert von den eindringlichen Schicksalen und der dahinter deutlich werdenden Geschichte, andererseits aber unzufrieden mit Stil und Dialogen. Die Sprache sei voller Phrasen und bremse die Leselust. Vielleicht auch ein Problem der Übersetzung? Dennoch: es ist ein großes Verdienst der Autorin, einen Zugang zu der unglaublich grausamen Vergangenheit des Landes möglich gemacht zu haben.

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Dschinns

Autorin: Fatma Aydemir

Taschenbuch bei dtv

Der deutsch-türkisch Familienroman schildert die Schicksale von sechs Angehörigen der kurdischen Familie Yilmaz: Vater, Mutter und vier Kinder. Der Vater war vor 50 Jahren von Deutschland als Gastarbeiter angeworben worden und arbeitete 30 Jahre in deutschen Fabriken. Er erfüllt sich einen Traum: eine Wohnung in Istanbul zu kaufen, in die er im Ruhestand einziehen und die er später der Familie vererben könnte. Am Tag des Einzugs stirbt er an einem Herzinfarkt. Die Familie kann nur noch zur Beerdigung kommen.

Der Roman entwirft ein vielfältiges Bild zu Fragen wie „Was ist Heimat?“, Bedeutung von Familie und Identität, Schweigen und Traumata der Eltern, Entmündigung der Frau, Suche nach neuen Partnerschaften. Jedes Familienmitglied trägt Probleme ganz unterschiedlicher Art mit sich herum – und beschweigt sie. Erst mit dem Tod des Vaters bricht vieles auf.

Über allem schwebt die Figur eines Dschinns, der nach islamischer Vorstellung ein „Geistwesen aus rauchlosem Feuer“ ist und ein Dämon oder auch ein Schutzheiliger sein kann. Ganz zweifellos ist in der Wohnung in Istanbul ein Dschinn und „steuert“ vor allem die sehr grundsätzliche Auseinandersetzung der Tochter Sevda mit ihrer Mutter, mit der das Buch – mit einem sehr überraschenden Schluss – endet.

Literaturkreis Holzgerlingen 6. November 2024 (Stadtbücherei)

Im Mittelpunkt des jüngsten Treffens des Literaturkreises Holzgerlingen im November 2024 in der Stadtbibliothek stand der Roman von Fatma Aydemir „Dschinns“, 2022 für den deutschen Buchpreis nominiert. Die in Karlsruhe geborene Autorin ist Redakteurin bei der „taz“ in Berlin. Dies ist ihr zweiter Roman.

Der Roman spricht viele (für einige: zu viele) Probleme aus den aktuellen Diskursen über Migrantenfamilien an. Die vielfältigen Aspekte führten im Literaturkreis aber zu einer äußerst lebhaften Diskussion, in die auch so manche Erfahrung aus dem persönlichen Umfeld einfloss. Der Abend in der Stadtbibliothek war einer der lebhaftesten der letzten Monate. Im Fazit war man sich einig: eine lohnenswerte Lektüre.

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Hotel Silber. Neue Zeit – alte Schuld

Autor: Kai Bliesener

256 Seiten, Taschenbuch im Emons-Verlag

Stuttgart 1945 – eine Stadt vor unendlich vielen Problemen. Eines der dringlichsten: wie können Recht und Ordnung wiederhergestellt werden? Dafür war vor allem eine neue Polizei erforderlich. Die Besatzungsmacht USA veranlasste mehrere Ausschreibungen. Vorläufiges Hauptquartier der Polizei wurde ausgerechnet das „Hotel Silber“, bis Kriegsende Sitz der Gestapo und einer der gefürchtetsten Orte in ganz Stuttgart. Folter und Mord waren dort gang und gäbe. Noch am 11. April, nur wenige Tage vor der Eroberung der Stadt durch französische Truppen wurde im Keller des Gestapo-Hauses die Jüdin Else Josenhans auf besonders grausame Weise ermordet.

Foto Hotel Silber – Familie Josenhans – 2.v.l. Else

Mit der Aufklärung dieses Mordes beginnt der Krimi. Der fiktive Roman orientiert sich an den realen Ereignissen der Nachkriegsmonate und baut sie in eine spannende polizeiliche Ermittlungsgeschichte ein. Zugleich spielen ehemalige Gestapo-Schergen eine Rolle, die sich mit falschen Lebensläufen oder gar neuer Identität zum Polizeidienst gemeldet hatten und eingestellt worden waren (insgesamt waren es 15 aus der „alten“ Gestapo). Wie ein Großteil von ihnen enttarnt werden konnte, spielt in dem Buch eine große Rolle.

Der Roman zeigt auch, welche Probleme sich für die Stadt Stuttgart aus dem Lager mit 1.300 „Displaced Persons“ ergaben – polnische Juden, die aus dem ehemaligen KZ Radom (bei Warschau) befreit worden waren und die in Stuttgart in der Reinsburgstraße untergebracht waren. Sie warteten dort auf die Möglichkeit, in ein anderes Land auszuwandern. Bei einer Polizei-Razzia wurde einer von ihnen erschossen. Die zweite Hälfte des Kriminalromans beschäftigt sich mit der Aufklärung dieses Falles.

Literaturkreis Holzgerlingen 11. Dezember 2024 (Stadtbücherei)

Im Mittelpunkt des Dezember-Treffens des Literaturkreises Holzgerlingen in der Stadtbibliothek stand der Kriminalroman „Hotel Silber. Neue Zeit – alte Schuld“ von Kai Bliesener. Bliesener ist Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Theaterhauses Stuttgart.

Die Diskussionen der 17 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Literaturkreises waren – wie gewohnt – außerordentlich lebhaft und engagiert, mit Parallelen zur Gegenwart, aber auch mit familiären Erfahrungen von Eltern mit der Gestapo in der NS-Zeit. Einige hatten wenige Tage vorher das Gestapo-Museum „Hotel Silber“ und die dortige Ausstellung „Gestapo vor Gericht“ besucht und konnten darüber berichten. Fazit: keine „große“ Literatur, aber ein sehr gut geschriebenes und wichtiges Buch zur Geschichte Stuttgart nach der Stunde null, für manche im Kreis kein Krimi, sondern eher ein historischer Roman.

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