Literaturkreis Berichte 2024

 

Treffen Titel Autor
24.01.2024 Das Leben ist ein vorübergehender Zustand Gabriele von Arnim
13.03.2024 Während die Welt schlief Susan Abulhawa
17.04.2024 Frei – Erwachsenwerden am Ende der Geschichte Lea Ypi
05.06.2024 Offene See Benjamin Myers



Das Leben ist ein vorübergehender Zustand

Autorin: Gabriele von Arnim

Die Autorin beschreibt darin die 10-jährige Pflege ihres Ehemannes nach zwei Schlaganfällen. Der sportliche und eloquente sehr bekannte Journalist, Reporter und Redakteur bleibt gelähmt und mit eingeschränkter Sprachfähigkeit zurück. Obwohl von Arnim ihm am Tag des ersten Schlaganfalls morgens mitgeteilt hatte, dass sie ihn verlassen wolle, entscheidet sie sich, bei ihm zu bleiben. Dass es ein 10-jähriger Leidensweg mit vielen Tiefpunkten werden würde, konnte sie nicht ahnen. Während der intensiven Betreuung ihres Ehemanns schreibt sie Tagebuch, auch um die hoffnungslosen Tage zu überstehen. Erst einige Jahre nach dem Tod ihres Mannes entscheidet sie das Buch zu schreiben.

Gabriele von Arnim schreibt autobiographisch über Fürsorge bis zur Übergriffigkeit, über Zuwendung bis zur Herrschsucht, über Hoffnung in der wissentlichen Hoffnungslosigkeit, über eine die Kraft übersteigende Pflege. Sie schildert gute und schlechte Situationen ohne Scheu. Freunde wenden sich ab, die mit der Situation nicht umgehen können, aber Fremde engagieren sich, um für sie das Leben etwas leichter zu machen.

Literaturkreis Holzgerlingen 24. Januar 2024 (Stadtbücherei)

Der Literaturkreis tauschte sich ausführlich über eigene Erfahrungen aus und zeigte großen Respekt vor der Leistung der Autorin. Es ist ein sehr lesenswertes Buch, denn niemand weiß, was morgen wird.

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Während die Welt schlief

Autorin: Susan Abulhawa

432 Seiten, TB Heyne 2023

Die Autorin, 1970 geboren als Kind palästinensischer Flüchtlinge, wuchs in Kuwait, Jordanien und Jerusalem auf
und wurde – ihre Eltern hatten sich getrennt – mit 13 Jahren als Pflegekind nach Charlotteville (North Carolina)
vermittelt. Sie studierte nach dem Schulabschluss Biomedizin in den USA und lebt heute in Pennsylvania.
„Während die Welt schlief“ ist ihr erster Roman, zu dem sie nach einer Palästina-Reise im Jahre 2000 angeregt wurde.

Das Buch beschreibt anhand des – fiktiven – Schicksals einer palästinensischen Familie über vier Generationen
hinweg die Geschichte Palästinas ab 1941 und die Konflikte und kriegerischen Auseinandersetzungen mit Israel
nach dessen Gründung 1948 und der Teilung Palästinas durch die Vereinten Nationen. Das Leben zwischen immer wieder
erneuter Vertreibung, Kriegen, aber auch Hoffnungen und Versöhnungsansätzen wird ergreifend, berührend und tief
mitfühlend geschildert. Die Versäumnisse, sich historisch rechtzeitig für eine Zwei-Staaten-Lösung zu entscheiden,
werden klar herausgearbeitet. Das Lagerleben palästinensischer Flüchtlinge ist von Hass und Verzweiflung geprägt.
Das Buch ist eine zum Teil schwer erträgliche Lektüre, wiewohl es zwischendurch auch sehr versöhnliche Botschaften
enthält.

Literaturkreis Holzgerlingen 13. März 2024 (Stadtbücherei)

Der Literaturkreis hatte sich für dieses Buch lange vor dem 7. Oktober 2023 entschieden, als noch keiner ahnen konnte, wie grausam und kontrovers die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der Hamas und Israel werden würden. Entsprechend schwierig wurde die ungewöhnlich lange Diskussion, die zum Teil von sehr persönlichen
Positionen geprägt war. Interessant waren dabei auch die Analysen zur Bedeutung der direkten und indirekten Einmischung anderer Länder bis hin zu den Großmächten USA, Russland, und China.

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Frei – Erwachsenwerden am Ende der Geschichte

Autorin: Lea Ypi

333 Seiten, TB Suhrkamp Verlag, 14 Euro

Lea Ypi, Jahrgang 1979, geboren in Albanien, stammt aus dem ehemaligen Großbürgertum. In der 1946
unter Enver Hoxha ausgerufenen „sozialistischen Volksrepublik“ galt die Familie als „Klassenfeind“, Lea Ypi
wuchs in einer stalinistischen Diktatur auf, den Transformationsprozess ab 1992 und sein Scheitern
erlebte sie in Tirana. Es gelang ihr dann, in Italien zu studieren und zu promovieren. Nach weiteren
internationalen Stationen ist sie heute Professorin an der London School of Economics.

Ihr erstes – autobiographisches – Buch „Frei“ erschien 2021 auf Englisch, 2022 auf Deutsch.
Sie beschreibt darin ihre Kindheit und Jugend in einer Diktatur, die aber ihr Zuhause ist: als Ort der
Geborgenheit, des Lernens, der Hoffnung und der Freiheit. All das bricht mit dem Fall der Mauer in Berlin
und dem Ende der Enver-Hoxha-Herrschaft zusammen. Alle ihre „Wahrheiten“ gehen plötzlich verloren. Sie erfährt,
dass ihre oppositionellen Eltern – um sie zu schützen – sie jahrelang belogen und getäuscht hatten, dass
Verwandte politisch verfolgt worden waren, enteignet, zum Teil in Arbeitslagern und Gefängnissen gesessen hatten.
Dann aber erlebt sie die „Übernahme“ von Albanien durch gewissenlose Geschäftemacher, Betrüger, Drogendealer und
Zuhälter. Die junge Privatwirtschaft erwirtschaftete zusammen mit den Überweisungen von 400.000 ausgewanderten
Albanern ein großes privates Vermögen, das 1997 durch skrupellose „Sanierer“ verloren ging.

Literaturkreis Holzgerlingen 17. April 2024 (Stadtbücherei)

Lea Ypi hat einen präzisen und eindringlichen Stil, schildert die Erfahrungen mit der „neuen Freiheit“ warmherzig und humorvoll, trotz der damit auch für ihre Familie verbundenen Tragik. Dem Literaturkreis fielen bei seinem Treffen in der Stadtbibliothek viele lobende Adjektive für das Buch ein, das alle mit großem Lesevergnügen und nachdenklichen Erkenntnissen über die Auswirkungen der „Freiheit“ für Albanien verbanden. Die Vergleiche zur Entwicklung Deutschlands nach der Wiedervereinigung lagen natürlich nahe und wurden – zum Teil aus eigenen Erfahrungen – trefflich formuliert.

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Offene See

Autor: Benjamin Myers

268 Seiten, Verlag Dumont

Benjamin Myers (Jahrgang 1976) legt mit „Offene See“ sein zweites Buch in deutscher Sprache vor.
Es wurde 2020 zum Lieblingsbuch des Unabhängigen Buchhandels gewählt. Es ist eines von inzwischen 20 Büchern
des schreibfreudigen englischen Autors, der in Deutschland offensichtlich erst jetzt „entdeckt“ wird.

England 1946: das Land fast bankrott, durch Hitlers Luftkrieg gegen England sind viele Städte zerstört,
Hunger und Lebensmittelkarten bestimmen den Alltag. Der 16jährige Robert sieht sein Leben nach dem
Schulabschluss auf eine Tätigkeit im Bergwerk hinauslaufen, wie seine Vorfahren. Er entscheidet sich jedoch,
erst seiner Sehnsucht nach der Weite des Meeres nachzugehen, und macht sich auf Wanderschaft. Er lebt von
Tagelöhnerarbeiten und fühlt sich frei.

Fast am Meer angekommen, lernt er eine ältere Frau kennen, Dulcie, die ihn zu einem Tee in ihr Cottage einlädt.
Robert begegnet in ihr der ungewöhnlichsten Frau seines Lebens, hört zu, diskutiert, betritt eine ihm auch
intellektuell völlig unbekannte Welt. Dulcie ist offen, gastfreundlich, aber zugleich auch merkwürdig rätselhaft.
Sie trägt ein Trauma in sich, an das sich Robert sehr langsam und mit viel Mühe heranarbeitet. Die Lebensfreundin
Romy Landau, 1933 vor den Nazis aus Deutschland nach England geflüchtet, hat intensive Jahre mit Dulcie verbracht,
war jedoch depressiv und hat ihren Zustand mit unendlich vielen Gedichten zu erleichtern versucht, im Endeffekt
vergeblich: sie hat sich das Leben genommen. Robert findet den Abschiedsbrief, den Dulcie über viele Jahre so
vermisst hatte.

Dulcie veröffentlicht die Gedichte von Romy Landau als Buch mit Robert als Mitherausgeber. Es wird ein großer
finanzieller Erfolg. Dulcie stößt Robert damit die Tür zu einer ganz anderen Lebensentwicklung auf: er kann
studieren und wird Schriftsteller.

Literaturkreis Holzgerlingen 05. Juni 2024 (Stadtbücherei)

Der Literaturkreis hat „Offene See“ mit großem Vergnügen gelesen und lobte die flüssige, gut
lesbare Sprache, die bisweilen überraschenden Einfälle, die einfühlsame Erzählung über Selbstfindung, Freundschaft
und Lebensweisen.

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Beim nächsten Treffen will sich der Literaturkreis mit dem Lebenswerk von Paul Auster beschäftigen
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