Literaturkreis Berichte 2021


 

Treffen Titel Autor
27.01.21 Adressat unbekannt Kathrine Kressmann
10.03.21 Das amerikanische Hospital Max Kleeberg
21.04.21 Das Haus der Frauen Laetitia Colombani
21.04.21 Vom Ende der Einsamkeit Benedikt Wells
09.06.21 Ein einfaches Leben Min Jin Lee
21.07.21 Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten Helga Schubert
15.09.21 Ein Leben mehr Jocelyne Saucier
15.09.21 Löwen wecken Ayelet Gundar-Goshen
20.10.21 Olga Bernhard Schlink
01.12.21 Unter der Drachenwand Arno Geiger


Adressat unbekannt

Autorin Kathrine Kressmann Taylor

Briefroman – Amerikanische Übersetzung von Dorothee Böhm

112 Seiten, Verlag Hoffmann und Campe

Der Deutsche Martin Schulse und der amerikanische Jude Max Eisenstein betreiben in den USA eine gut gehende Kunstgalerie. 1932 entscheidet sich Schulse, mit seiner Familie nach Deutschland zurückzukehren. Eisenstein betreibt die gemeinsame Galerie in San Francisco weiter. Die beiden Männer bleiben in Kontakt und tauschen sich in ihren Briefen über Berufliches und Privates aus. Zunächst scheint die Freundschaft nicht unter der räumlichen Trennung zu leiden. Doch Schulse, der die politischen Entwicklungen in Deutschland anfangs noch kritisch betrachtete, entwickelt sich nach und nach zum bekennenden Nationalsozialisten. Adressat unbekannt, 1938 erstmals veröffentlicht, ist ein Buch von beklemmender Aktualität. Gestaltet als Briefwechsel zwischen einem Deutschen und einem amerikanischen Juden in den Monaten um Hitlers Machtübernahme, schildert dieses Meisterwerk die dramatische Entwicklung einer Freundschaft und die Geschichte einer bitterbösen Rache. »Ich habe nie auf weniger Seiten ein größeres Drama gelesen. Diese Geschichte ist meisterhaft, sie ist mit unübertrefflicher Spannung gebaut, in irritierender Kürze, kein Wort zu viel, keines fehlt …

Nie wurde das zersetzende Gift des Nationalsozialismus eindringlicher beschrieben«, resümiert Elke Heidenreich in ihrem Nachwort.
»Ein Buch von beklemmender Aktualität.«

Adressat unbekannt

Literaturkreis Holzgerlingen 27. Januar 2021 (Zoom)

Der im Dezember gegründete Literaturkreis hat sich am 27. Januar erneut getroffen und über das Buch „Adressat unbekannt“ von Kathrine Kressmann Taylor, erstmalig veröffentlicht 1938, diskutiert. Alle waren sich einig, dass es sich bei diesem „Brief-Roman“ um ein besonders intensives, wuchtiges, unter die Haut gehendes Buch über den Nationalsozialismus und die Vergiftung der Seelen seiner Anhänger handelt. Dass hier ein Jude von den USA aus Rache am Tod seiner Schwester nimmt, ist ebenfalls ungewöhnlich. Eine Teilnehmerin formulierte, sie habe nie auf so wenigen Seiten ein größeres Drama gelesen.

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Das amerikanische Hospital

Autor Michael Kleeberg

232 Seiten, München, Dt. Verlag

Paris, im Winter 1991. Hélène steht in der Empfangshalle des amerikanischen Hospitals, als vor ihr ein Mann zusammenbricht. Sein Blick brennt sich in ihre Augen. Das ist die erste Begegnung zwischen der dreißigjährigen Pariserin und dem Amerikaner David. Die beiden vom Schicksal Gebeutelten freunden sich an und stützen einander auf ihrer schmerzhaften Suche nach der Wahrheit über sich selbst.

Michael Kleeberg versteht es auf eindringliche Weise Zeitgeschichtliches und Privates, die seelischen Qualen des Krieges und die körperlichen des unerfüllten Kinderwunschs mit der dichten Atmosphäre der Stadt Paris zu verweben. Ein meisterhaft komponierter Roman voll erschütternder und unvergesslicher Szenen.

Das amerikanische Hospital

Literaturkreis Holzgerlingen 10. März 2021 (Zoom)

Vorgestellt und diskutiert (mit 15 Lesebegeisterten) wurde diesmal Max Kleebergs zwölftes Buch „Das amerikanische Hospital“, für das er 2011 den Evangelischen Buchpreis erhalten hat. Zwei Teilnehmerinnen hatten Kleeberg bei Lesungen in Böblingen, wo er einen Teil seiner Jugend verbracht hatte, kennengelernt. Der Roman schildert das zufällige Zusammentreffen einer Französin, die in der amerikanischen Klinik künstlich befruchtet werden soll, mit einem US-Soldaten, der in der Klinik an seinem im Irak-Krieg verursachten posttraumatischen Belastungssyndrom behandelt wird. Auch die (vergeblichen) Fertilisationsversuche entwickeln sich für die Französin zu einem Trauma. Heilend und helfend für beide, so stellt sich heraus, sind die Begegnungen und sensiblen Gespräche über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr.

Die Stärken des Buches, so arbeiteten die Diskutierenden heraus, liegen zum einen in der Beschreibung der kalten und technokratischen Reproduktionsmedizin, die die Französin in die Verzweiflung und schließlich in die Trennung von ihrem Mann treibt. Zum anderen sind es die Schilderungen der Sinnlosigkeit und Menschenfeindlichkeit eines Krieges, der zugleich Teile von Natur und Umwelt im Irak vernichtet. Als Schwächen wurden sprachliche Teile des Romans wie auch seiner Beschreibungen von Paris gesehen.

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Das Haus der Frauen

Autorin Laetitia Colombani

Roman – Französische Übersetzung von Claudia Marquardt

254 Seiten, S. Fischer Verlag, Frankfurt

In Paris steht ein Haus, das allen Frauen dieser Welt Zuflucht bietet. Auch der erfolgreichen Anwältin Solène, die nach einem Zusammenbruch ihr Leben in Frage stellt. Im „Haus der Frauen“ schreibt sie nun im Auftrag der Bewohnerinnen Briefe – an die Ausländerbehörde, den zurückgelassenen Sohn in Guinea, den Geliebten – und erfährt das Glück des Zusammenhalts und die Magie dieses Hauses. Weil Solène anderen hilft, hat ihr Leben wieder einen Sinn. Doch wer war die Frau, die vor hundert Jahren allen Widerständen zum Trotz diesen Schutzort schuf? Solène beschließt, die Geschichte der Begründerin Blanche Peyron aufzuschreiben.

Ein ergreifender Roman über mutige Frauen und ein Plädoyer für mehr Solidarität.

Laetitia Colombani wurde 1976 in Bordeaux geboren, sie ist Filmschauspielerin und Regisseurin. Ihr erster Roman »Der Zopf« stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und wird verfilmt. Für ihren zweiten Roman »Das Haus der Frauen« recherchierte Colombani im »Palais de la Femme« in Paris, einem Wohnheim für Frauen in Not. Sie sprach mit Mitarbeiterinnen und Bewohnerinnen und wurde eine von ihnen. „Das Haus der Frauen“ ist der erste Roman über Blanche Peyron, die 1926 unter widrigsten Umständen eines der ersten Frauenhäuser begründete. Laetitia Colombani lebt in Paris.

Das Haus der FrauenDas Haus der Frauen in Paris Das Haus der Frauen im heutigen Paris (Fotonachweis: Wikipedia CC BY-SA3.0)

Literaturkreis Holzgerlingen 21. April 2021 (Zoom)

Vorgestellt wurde zunächst das Buch der Französin Laetitia Colombani, das 2020 erstmalig auf Deutsch erschienen war: „Das Haus der Frauen“ (Original „Les Victorieuses“). Es beschreibt zum einen eine Erfolgsgeschichte der Heilsarmee in Frankreich. Die in dem Buch porträtierte bewundernswert mutige und durchsetzungsstarke Blanche Peyron schaffte es, in den zwanziger Jahren in Paris ein ehemaliges Hotel und Krankenhaus durch Spenden zu kaufen und in einen „Palast der Frauen“ umzuwandeln, in dem alleinstehende und in Not geratene Frauen, Migrantinnen, Obdachlose, vor häuslicher Gewalt Geflohener, aufgenommen werden konnten.

In einem zweiten Erzählstrang wird diese heute noch bestehende „Fluchtburg“ mit Platz für über 700 Frauen, ihre vielfältige Arbeit und ihre Magie beschrieben. Die Ich-Erzählerin ist nach einem beruflichen Zusammenbruch und „Burnout“ im Rahmen ihrer persönlichen Therapie als „Ehrenamtliche“ in dieses Haus der Frauen geraten.

Es ist Colombanis zweites Buch (das erste „Der Zopf“ wird bereits verfilmt). Der Literaturkreis diskutierte es in beiden Gruppen kontrovers und heftig und öffnete den Lesebegeisterten zahlreiche Aspekte des Zugangs wie auch der kritischen Betrachtung

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Vom Ende der Einsamkeit

Autor Benedict Wells

264 Seiten, Diogenes Verlag

Der noch relativ junge deutsch-schweizer Autor Benedict Wells (Jahrgang 1984) erhielt für seinen Roman „Vom Ende der Einsamkeit“, 2016 den Literaturpreis der Europäischen Union. Wells schildert nach dem frühen Unfalltod der Eltern das Leben von drei Kindern, von denen jedes auf ganz eigene Weise mit dem Schicksalsschlag umgeht. Jules und seine beiden Geschwister wachsen behütet auf, bis ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben kommen. Als Erwachsene glauben sie, diesen Schicksalsschlag überwunden zu haben. Doch dann holt sie die Vergangenheit wieder ein. Ein berührender Roman über das Überwinden von Verlust und Einsamkeit und über die Frage, was in einem Menschen unveränderlich ist. Und vor allem: eine große Liebesgeschichte.

Vom Ende der Einsamkeit

Literaturkreis Holzgerlingen 21. April 2021 (Zoom)

Ein Literaturkreis-Ehepaar stellte das Werk mit viel Empathie und persönlichem Engagement vor und zitierte am Schluss eine Botschaft: „Das Gegengift zu Einsamkeit ist Geborgenheit“. Das Werk sei ein guter Anlass gewesen, sich mit den angesprochenen Themen wie Sterben, Tod und Trauerbewältigung intensiver auseinander zu setzen.

Wells schildert das Schicksal von drei Kindern, die in jungen Jahren durch einen Verkehrsunfall beide Eltern verloren hatten und sich nun über Internatszeiten, Ausbildungs-, Studiums- und Berufsjahre wie auch über viele Partnerschaftskrisen immer wieder selbst infrage stellen und neu finden, „im Schmerz lernen“ mussten.

Die Diskussion in beiden Gruppen war recht unterschiedlich. Die sehr flüssige Schreibweise wurde generell gelobt, der Spannungsbogen anerkannt. Viele sahen aber auch einen erheblichen „Bruch“, der wohl mit der Kürzung von ursprünglich 800 Seiten auf die Hälfte zu tun hatte. Interessant war, dass in einer Gruppe in dem Werk eine „Schreibtherapie“ des Autors gesehen wurde, mit der er sich möglicherweise aus einer drohenden Depression herausarbeitete. Im Hinblick auf das eigene Lebensschicksal des Autors und seine extrem schwierige Familiengeschichte erscheint das nicht unwahrscheinlich. Wells schrieb sieben Jahre an diesem Bestseller. Es ist sein fünftes Buch.

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Ein einfaches Leben

Autorin Min Jin Lee

Roman – Amerikanische Übersetzung von Susanne Höbel

552 Seiten, dtv Verlagsgesellschaft

»Eine überwältigende Geschichte über Widerstandsfähigkeit und Mitgefühl.« Barack Obama

Sunja und ihre Söhne leben als koreanische Einwanderer in Japan wie Menschen zweiter Klasse. Während Sunja versucht, sich abzufinden, fordern Noa und Mozasu ihr Schicksal heraus. Der eine schafft es an die besten Universitäten des Landes, den anderen zieht es in die Spielhallen der kriminellen Unterwelt der Yakuza.

Ein opulentes Familienepos über Loyalität und die Suche nach der eigenen Identität.

Min Jin Lee wurde 1968 in Seoul/Südkorea geboren und immigrierte, als sie acht Jahre alt war, mit ihrer Familie in die USA. Sie hat in Yale studiert und vor der Veröffentlichung ihres ersten Romans als Anwältin gearbeitet.

Ein einfaches Leben

Literaturkreis Holzgerlingen 09. Juni 2021 (Zoom)

Von der Geschichte im Stich gelassen? Diesmal stand der preisgekrönte Roman der koreanischen-amerikanischen Autorin Min Jin Lee „Ein einfaches Leben“ (englisch: „Pachinko“) im Mittelpunkt – 2017 von der New York Times zu einem der zehn besten Bücher des Jahres gewählt. Barack Obama nannte es „eine überwältigende Geschichte über Widerstandsfähigkeit und Mitgefühl“.

Das Buch schildert über vier Generationen einer Familie hinweg die Arroganz Japans gegenüber Koreanern und die Unterdrückung über 40 Besatzungsjahre. Eine junge Koreanerin wandert 1911 nach Japan aus, ein Jahr, nachdem das neue Gastland ihre Heimat völkerrechtswidrig annektiert hat, bekommt dort zwei Söhne und durchlebt viele Jahrzehnte der Misshandlung und Diskriminierung. Ihre Söhne wollen dieses „einfache Leben“ aber nicht hinnehmen – der eine sucht und findet eine Berufskarriere in der Semi-Unterwelt der japanischen Spielhöllen (Pachinkos), der andere macht zunächst seinen Weg über gute Universitäten, japanisiert seinen Namen und trennt sich von der Familienvergangenheit. Sie holt ihn aber am Schluss doch tragisch ein: er nimmt sich das Leben.

„Die Geschichte hat uns im Stich gelassen, aber was macht das schon?“ So lautet der erste Satz des 2020 in deutscher Übersetzung erschienenen Werkes. Korea wurde in der Tat über Jahrzehnte (1910-1945) von Japan ausgebeutet bis hin zu zwei Millionen Zwangsarbeitern in der Kriegszeit und zigtausenden von jungen Frauen und Mädchen, die in Bordelle der japanischen Fronten verschleppt wurden und dort als „Trostfrauen“ dienen mussten. Nach 1950 forderte ein grausamer, von China und einer UNO-Koalition unter Führung der USA mitgekämpfter Krieg im zweigeteilten Korea fast eine Million Soldatenleben und drei Millionen zivile Opfer. Min Jin Lees „opulentes Familienepos“ über Liebe, Loyalität und die Suche nach der eigenen Identität bezieht alle diese Epochen in die spannende, meisterhafte und extrem gut lesbare Erzählung ein, lässt den Leser aber doch auch mit vielen unbeantworteten Fragen über die Lebensstrukturen von Migranten in Japan und verbrecherische Unterweltverhältnisse zurück. Der Literaturkreis diskutierte lebhaft und mit vielfältig unterschiedlichen Sichtweisen auf das Buch und resümierte dieses Treffen mit großer Zufriedenheit.

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Vom Aufstehen

Autorin Helga Schubert

258 Seiten, Fischer Verlag

Ein Jahrhundertleben – verwandelt in Literatur. Drei Heldentaten habe sie in ihrem Leben vollbracht, erklärt Helga Schuberts Mutter ihrer Tochter: Sie habe sie nicht abgetrieben, sie im Zweiten Weltkrieg auf die Flucht mitgenommen und sie vor dem Einmarsch der Russen nicht erschossen. In kurzen Episoden erzählt Helga Schubert ein deutsches Jahrhundertleben – ihre Geschichte, sie ist Fiktion und Wahrheit zugleich. Als Kind lebt sie zwischen Heimaten, steht als Erwachsene mehr als zehn Jahre unter Beobachtung der Stasi und ist bei ihrer ersten freien Wahl fast fünfzig Jahre alt. Doch vor allem ist es die Geschichte einer Versöhnung: mit der Mutter, einem Leben voller Widerstände und sich selbst.

Vom Aufstehen

Literaturkreis Holzgerlingen 21. Juli 2021 (Stadtbücherei Holzgerlingen)

„Lebensschule für immer“

Endlich konnte ein Treffen des Literaturkreises Holzgerlingen am 21. Juli 2021 „live“ in der Stadtbücherei stattfinden. Diesmal stand das Buch der Bachmann-Preisträgerin Helga Schubert im Mittelpunkt „Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten“, von einer Teilnehmerin äußerst einfühlsam vorgestellt.

In 29 Erzählungen beschreibt die inzwischen 81jährige Autorin ihr Leben, den frühen Vaterverlust (mit 28 Jahren in Russland gefallen), die Flucht vor russischen Truppen, das schwierige Leben in der DDR, die Tätigkeit als Psychotherapeutin und freie Schriftstellerin mit dauernder Überwachung durch die Stasi, schließlich ihre Beteiligung an den Montagsdemos und ihre Rolle als Pressesprecherin des „Runden Tisches“. Mit 50 Jahren beginnt 1990 ein neues Leben, dessen Haken und Ösen sie aber auch mit kritischer Feder beschreibt, vor allem eine Überreglementierung in bestimmten Bereichen, die sie so im vereinten Deutschland nicht erwartet hat.

Eine besondere Rolle spielt die Auseinandersetzung mit ihrer lieblosen und emotional extrem unterkühlten Mutter, im Literaturkreis ein ausführliches Thema, ebenso wie das Psychologie-Studium in der DDR und die daraus sich ergebende Berufstätigkeit. Einhellig war die Begeisterung über Helga Schuberts großartige und klare Sprache, die die Lektüre zu einem Genuss macht. Und einhellig war auch die Zustimmung zu der Erkenntnis, dass ein Aufwachsen in einer Diktatur eine „Lebensschule für immer“ sei.

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Ein Leben mehr

Autorin Saucier, Jocelyne

Roman – Französische Übersetzung von Sonja Finck

191 Seiten, Insel Verlag 2015, aus dem Franz. Übersetzung

Dies ist die Geschichte von drei alten Männern, die sich in die nordkanadischen Wälder zurückgezogen haben. Von drei Männern, die die Freiheit lieben. Eines Tages aber ist es mit ihrer Einsiedelei vorbei. Zuerst stößt eine Fotografin zu ihnen, sie sucht nach einem der letzten Überlebenden der Großen Brände, einem gewissen Boychuck. Kurze Zeit später taucht Marie-Desneiges auf, eine eigensinnige, zierliche Dame von achtzig Jahren. Die Frauen bleiben. Und während sie dem Rätsel um Boychucks Überleben nachgehen, entsteht etwas unter diesen Menschen, das niemand für möglich gehalten hätte.

Ein Leben mehr ist ein wundersam beseelter und berührender Roman, eine leidenschaftliche Hommage an die Liebe, die Freiheit und die Natur. Ein Roman wie das Leben selbst: traurig und schön.

Ein Leben mehr

Literaturkreis Holzgerlingen 15. September 2021 (Stadtbücherei Holzgerlingen)

Beim Treffen am 15. September 2021 – erneut in der Stadtbücherei – wurde zunächst das Buch von der Frankokanadierin Jocelyne Saucier „Ein Leben mehr“ diskutiert, das in Kanada zahlreiche Preise erhalten hat und inzwischen in zwölf Sprachen übersetzt worden ist. Es handelt von drei Männern, die mit der „Normalwelt“ gebrochen haben, einem medikamentösen „Trauma-Terror“, einem Krankheitssiechtum oder dem Altwerden in einem Heim entflohen sind, um in den Wäldern Kanadas ein völlig eigenbestimmtes Leben führen zu können – dessen Ende sie selbst bestimmen wollen. Ihr Einsiedlerleben wird dann aber plötzlich von der zweiundachtzigjährigen Marie-Desneiges, die nach einer vierzigjährigen „Gefangenschaft“ in einer Psychiatrie befreit worden war, und einer jüngeren Fotografin, die nach attraktiven Fotos über den „Großen Brand“ sucht, durcheinandergebracht. Sie bringen viel von dem Außenleben zurück, dem die Männer entkommen zu sein glaubten. Alle Literaturbegeisterten waren sich einig: ein wunderbar einfühlsamer Roman über Altsein, Selbstbestimmung, Freiheit, Natur, Freundschaft und Sterben.

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Löwen wecken

Autorin Ayelet Gundar-Goshen

Roman – Hebräische Übersetzung von Ruth Achlama

432 Seiten, Verlag Kein & Aber

Ein Neurochirurg überfährt einen illegalen Einwanderer. Es gibt keine Zeugen, und der Mann wird ohnehin sterben – warum also die Karriere gefährden und den Unfall melden? Doch tags darauf steht die Frau des Opfers vor der Haustür des Arztes und macht ihm einen Vorschlag, der sein geordnetes Leben komplett aus der Bahn wirft. Wie hätte man selbst in einer solchen Situation gehandelt? Diese Frage schwebt über dem Roman, der die Grenzen zwischen Liebe und Hass, Schuld und Vergebung und Gut und Böse meisterhaft auslotet.

Löwen wecken

Literaturkreis Holzgerlingen 15. September 2021 (Stadtbücherei Holzgerlingen)

Als zweites Buch wurde „Löwen wecken“ der israelischen Psychologin und Autorin Ayelet Gundar-Goshen vorgestellt und lebhaft und heftig debattiert, eine Kriminalgeschichte und gelungene Auseinandersetzung mit einer schwierigen israelischen Wirklichkeit. Dr. Etan Grien, Neurochirurg an einer Klinik in Beer Sheva, überfährt eines Nachts einen illegalen Migranten aus Eritrea, begeht Fahrerflucht und wird später von der Witwe des Toten erpresst, in einer Werkstatt eine ambulante Notstation für eritreische Migranten einzurichten, in der er abends nach seinem „offiziellen“ Krankenhausdienst ein ärztliche „Doppelleben“ führt. Dies bringt ihn an den Rand der absoluten Erschöpfung, zumal er gleichzeitig in seiner Familie eine Lügenwelt aufrechterhalten muss. Das Buch führt uns in eine Welt von Fluchthelfern, Drogenhändlern, Ausbeutung, Perspektivlosigkeit, Auseinandersetzungen zwischen Eritreern und Beduinen und einer teilweise korrupten Kriminalpolizei, ein Netz von Gewalt, Lüge, Erpressung und Angst, ein Psychodrama und Thriller, ein Roman über Liebe, Hass, Schuld, Vergebung, Gut und Böse, der dem Literaturkreis ideal als Vorlage für einen Film erschien.

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Olga

Autor Bernhard Schlink

320 Seiten, Diogenes Verlag

Pommern: Ende des 19. Jahrhunderts werden die Waise Olga und Herbert, Sohn reicher Gutsbesitzer, gegen den Willen seiner Eltern ein Paar. Doch Herbert will Abenteuer erleben, bricht auf zu Reisen nach Afrika, Amerika und Russland. Von seiner Expedition in die Arktis kehrt er nicht zurück.

Olga

Literaturkreis 20. Oktober 2021 (Stadtbücherei Holzgerlingen)

Der Autor gliedert sein Werk in drei Teile: Im 1. Teil berichtet ein beobachtender Erzähler über Olgas Leben, wie sie zunächst als Kind Ende des 19.Jhdts. ihre Eltern verliert, bei ihrer Großmutter ungeliebt in Pommern in ärmlichen Verhältnissen aufwächst und dort Herbert kennen und lieben lernt, der, im Gegensatz zu ihr, aus einer reichen Gutsbesitzerfamilie stammt. Olga widersetzt sich den Normen der Zeit und erkämpft sich ihren Traumberuf als Lehrerin. Sie ist bodenständig, kritisch-denkend – Herbert dagegen ist träumerisch, rastlos, ein Getriebener, den es in die Ferne zieht. So kämpft er als freiwilliger Soldat in Deutsch-Südwestafrika in den dt. Kolonien zur Zeit des 1. Weltkrieges. Später träumt er davon, die Arktis zu erforschen und wird dabei sein Leben verlieren.

Im 2.Teil wird Olgas Geschichte aus der Sicht des Sohnes (Ferdinand), bei dessen Familie sie nach Schicksalsschlägen als Näherin arbeitet, erzählt.

Der 3. Teil schließlich besteht aus den 30 Briefen, die Olga in verschiedenen Phasen ihres Lebens an Herbert postlagernd geschrieben, die er nie erhalten und die sich Ferdinand nach ihrem Tod beschafft hatte.

In diesen emotionalen Briefen nähert sich der Leser Olga immer mehr an und gewinnt tiefen Zugang zu ihren innersten Gefühlen und Gedanken.

So bleibt uns Olga in Erinnerung als eine Persönlichkeit von überbordender Stärke – heute würden wir vermutlich von „hoher Resilienz“ sprechen – wenn man bedenkt, in welcher Zeit diese Geschichte angesiedelt ist und wie sie die Widrigkeiten ihres Lebens tapfer und ohne zu klagen ertragen hat.

Erst in diesen wunderbaren Briefen erleben wir Olga als die starke Frau, die schreibt, was sie denkt – was sie im „wahren Leben“ ja nie getan hat. Bernhard Schlink erzählt uns in „Olga“ Geschichte am Beispiel einer in vielerlei Hinsicht ungewöhnlichen, besonderen Frau, deren Schicksal uns bewegt und noch lange nachwirkt!

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Unter der Drachenwand

Autor Arno Geiger

480 Seiten, Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG

Veit Kolbe verbringt ein paar Monate am Mondsee, unter der Drachenwand, und trifft hier zwei junge Frauen. Doch Veit ist Soldat auf Urlaub, in Russland verwundet. Was Margot und Margarete mit ihm teilen, ist seine Hoffnung, dass irgendwann wieder das Leben beginnt. Es ist 1944, der Weltkrieg verloren, doch wie lang dauert er noch? Arno Geiger erzählt von Veits Alpträumen, vom „Brasilianer“, der von der Rückkehr nach Rio de Janeiro träumt, von der seltsamen Normalität in diesem Dorf in Österreich – und von der Liebe. Ein herausragender Roman über den einzelnen Menschen und die Macht der Geschichte, über das Persönlichste und den Krieg, über die Toten und die Überlebenden.

Unter der Drachenwand

Literaturkreis Holzgerlingen 01. Dezember 2021 (Zoom)

Die bislang kontroverseste Buchdiskussion führte der Literaturkreis Holzgerlingen über das 2018 erschienene Buch des Österreichers Arno Geiger „Unter der Drachenwand“. Geiger (Jahrgang 1968) hatte auf einem Flohmarkt in Wien einen Packen Liebesbriefe und Tagebuchnotizen eines 17jährigen Kriegsteilnehmers an eine Cousine erworben. Dies und die Geschichte der eigenen Familie veranlassten ihn zu einer mehrjährigen Recherche über den Lebensalltag im Jahr 1944 in Österreich und Deutschland.

Sein Roman schildert die (fiktive) Geschichte des jungen Wehrmachtssoldaten Veit Kolbe, der in Russland schwer verwundet wird und deshalb in Deutschland operiert werden muss. Zur Rekonvaleszenz besucht er erst seine Eltern in Wien, dann seinen Onkel am Mondsee (unterhalb der Drachenwand, daher der Titel). Im dortigen Alltag erlebt er einiges: ein NS-Kritiker (der sog. „Brasilianer“) wird von der Gestapo zeitweise verhaftet, ein junges Mädchen aus einer Schülerinnen-Gruppe in Landverschickung wird tot aufgefunden, Kolbe verliebt sich in eine junge Frau aus Darmstadt (deren Ehemann auch Wehrmachtssoldat ist). Kolbe versucht, über seine Kriegstraumata hinwegzukommen, was ihm aber nur mit Hilfe von Drogen gelingt. Seinen Onkel, der inzwischen auch NSDAP-Anhänger ist, erschießt er, um den „Brasilianer“ vor einer neuen Verhaftung zu bewahren. Der Mord wird nicht aufgeklärt. Am Ende des Buches wird Veit wieder kriegsverwendungsfähig geschrieben und muss zurück an die Front.

Ein Teil der Literaturkreis-Teilnehmerinnen war von der Vielfalt der Quellen des Autors und der
Schauplätze des Buches sehr beeindruckt, von der Sprache fasziniert, fand die Sichtweisen auf den Krieg interessant. Arno Geiger verarbeitet – so eine Teilnehmerin – auch die Kriegserfahrungen seines Vaters, der ebenfalls mit 18 Jahren Soldat sein musste. Deshalb seien die Auseinandersetzungen mit den Kriegstraumata von Soldaten besonders intensiv zu lesen und nachvollziehbar. Zwei Teilnehmerinnen und zwei Teilnehmer waren hingegen sehr kritisch gegenüber dem Buch: die vielen Nebenschauplätze seien verwirrend und inhaltlich nicht wesentlich weiterführend, lenkten von der eigentlichen Geschichte ab. Dem Buch fehle deshalb auch der wirkliche Lesefluss, die Beschreibung des Kriegsalltags in Darmstadt sei schwach, die Teile über die Judenverfolgung unzulänglich.

Die Diskussion zeigte wieder einmal, wie unterschiedlich die Sichtweisen auf ein Buch sein können. Das macht den Reiz des Literaturkreises aus.

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